Top-Draft-Pick Derrick Rose soll die Chicago lulls wieder auf Erfolgskurs bringen. Doch an den luftigen Erwartungen in der Windy City sind vor dem 19-jährigen Playmaker schon viele andere Youngster gescheitert.
Noch immer trauern die Fans in Chicago dem 90er-Team um Michael Jordan und Scottie Pippen hinterher. Was für Zeiten: Sechs Meisterschaften und immer eine ausverkaufte Hütte. Die Bullen von heute sind dagegen nur noch zahme Kälber. Vergangene Saison qualifizierten sie sich nicht mal mehr für die Playoffs, positive Schlagzeilen gab es nur selten. Was vor allem fehlte, war ein Führungsspieler. Einer, der eine neue Ära einleitet. Stolz und Erfolg zurückbringt. Ein Erlöser. Den hofft man jetzt beim Draft gefunden zu haben: Mit Top-Pick Derrick Rose. Der Point Guard ist zwar erst 19 Jahre jung und mit nur einem Jahr College-Erfahrung ausgestattet, dafür aber unglaublich talentiert. “Derrick ist ein ganz besonderer Spieler, der uns zurück nach oben führen kann”, schwärmt Bulls-Manager John Paxson von seinem Nachwuchs-Star. “Wir erhoffen uns sehr viel von ihm.” Willkommen im Haifischbecken NBA, Mr. Rose!
Ausgewiesener Winner
Auf dem Papier ist Rose ein Ausnahmetalent, wie es nur alle Jubeljahre die NBA-Bühne betritt. Als Highschooler gewann er zwei Championships und erzielte in seinem letzten Jahr 25,2 Punkte, 9,1 Assists und 8,8 Rebounds im Schnitt. Seine Dunks, Dribblings, Drives und Zuckerpässe wurden schnell zu Hits auf youtube.com.
Auf dem nächsten Level ging es so weiter: Rose trug die Memphis Tigers in seiner einzigen College-Saison bis ins Finale des NCAA-Turniers. Dort siegten zwar trotz seiner 18 Punkte und acht Assists die Kansas Jayhawks, doch Rose hatte sein “Winner-Gen” bis dahin schon längst bewiesen. Herz, Hirn und Game – das komplette Paket! “Er kann individuell alles, agiert aber uneigennützig”, schwärmt deshalb ESPN Experte Jay Bilas.
Kein Zweifel: Rose hat das Zeug zum Superstar. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Und nirgendwo ist er steiniger als in Chicago. Der 1,91 Meter große und 86 Kilo schwere Rookie steht also vor einer der größten Herausforderungen der NBA-Geschichte.
Schwerer Start
Auf seinen Schultern, von denen in der kommenden Saison das Trikot mit der passenden Nummer 1 hängen wird, lastet nämlich ein gewaltiger Druck. Da wäre zum einen die Tatsache, dass in den letzten 30 Jahren außer Rose nur zwei Guards an erster Stelle gedraftet wurden: Allen “The Answer” Iverson (1996) und Earvin “Magie” Johnson (1979). Beide wurden zu absoluten Megastars und jeweils MVP, Magie obendrein fünffaeher Champ mit den Lakers. Krasse Gesellschaft!
Damit nicht genug: Für den Nummer-eins-Pick hängt die Messlatte traditionell noch höher als für den Rest des Jahrgangs. Die Erwartungen sind immens, die Toleranzschwelle verschwindend gering. Jeder Schritt wird genau beobachtet. Analysiert. Verglichen. Beurteilt. Und verurteilt. So werden Fehler nicht nur schnell, sondern auch gerne gefunden. Jeder Wurf, der vom Ring abprallt, fällt auch auf den Youngster zurück.
Schwierig wird der Einstieg für Rose auch, weil er als Playmaker vom ersten Tag an zahlreiche neue Spielzüge beherrschen muss. Kann er das Tempo der Bulls bestimmen, ohne die NBAGeschwindigkeit zu kennen? Gelingt es ihm, die millionenschweren Egos um sich herum zu sättigen? Und als Frischling unter Veteranen zum Anführer aufzusteigen, ohne dabei arrogant oder selbstherrlich zu wirken?
Im direkten Kampf um seine Position muss Rose bei den Bulls erst einmal an Kirk Hinrich vorbei. Als wäre es nicht schwer genug, die Geschicke einer Multimillionendollar-Truppe zu lenken und den Spagat zwischen Teamplay und eigenem Spielfluss zu schaffen …
Dass er das gleich in seiner ersten Saison schaffen wird, glauben nur wenige: Bei einer Umfrage von ESPN.com hat kein einziger Fachmann auf den Top-Pick aus Chicago als kommenden “Rookie of the Year” getippt!
Bei all diesen Problemen ist ein biografisches Detail besonders interessant. Es könnte Rose’ Mission endgültig impossible machen: Er stammt aus Chicago! Und das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Rose und seine drei Brüder wuchsen auf der South Side auf. Schon als Teenager avancierte Derrick zum Lokalhelden. Spätestens seit dem NBADraft kennt jeder den neuen Superstar der Stadt. Seine Freiheiten sind also eingeschränkt, weil Cheeseburger-Dinner, Clubbesuche und Alkoholkonsum sofort durch die Presse gehen. Ständig sind außerdem (falsche) Freunde und Familie herum, was für einen Profisportler eine nicht immer willkommene Ablenkung darstellt – schließlich verlangt sein Job vollste Konzentration.
Zusätzliche Probleme drohen Rose innerhalb der eigenen Reihen. Chicago ist für Rookies traditionell kein gutes Pflaster. Seit Jordans Abgang 1998 hat kein NBA-Team so viele junge Talente verheizt wie die Bulls (siehe Kasten). Immer wieder wurden Youngster dazu auserkoren, für Erfolge zu sorgen. Funktioniert hat das noch nie.
Man muss sich also fragen, ob Derrick Rose bei all seinem Talent überhaupt eine faire Chance hat. Um die Bulls zu retten, braucht er fast schon magische Kräfte. Da passt es ja, dass die Tätowierung auf seiner linken Schulter einen Zauberer zeigt, der einen Stab und einen Basketball hält. Er heißt “Poohdini”, ein Wortspiel aus dem Entfesselungskünstler Harry Houdini und Derricks Spitznamen “Winnie The Pooh” aus moppe ligen Kindertagen. Derrick, der Basketball-Magier?
Bisher hat Rose auf jedem Level begeistert und bewiesen, dass er ein NBA-Star werden kann. Aber ein “kann” reicht im Hexenkessel Chicago nicht.